Die Black-Power-Aktivistin und älteste Nationalpark-Rangerin der USA BATTY REID SOSKIN wurde im September 97. Ein Besuch in Richmond, Kalifornien. Von LISA BOLYOS
„Es kam mir nie in den Sinn, dass ich so lange leben könnte, dass ich selbst ein Teil Schwarzer Geschichte werde“, bloggte Betty Reid Soskin am 12. März 2008. Seither ist schon wieder ein Jahrzehnt vergangen, und Reid Soskin wirkt fit wie der sprichwörtliche Turnschuh. „Ich bin alt genug geworden, um die Zukunft, für die wir in den Sechzigerjahren gekämpft haben, selbst zu erleben. Und jetzt wollen wir mal sehen, was als nächstes kommt.“
Selbstgemachte Befreiung. In ihrem 97. Lebensjahr hat Betty Reid Soskin endlich ein Buch geschrieben. Notizen, Blogeinträge und Erinnerungen erzählen aus ihrem Leben: Vom Aufwachsen in New Orleans, das die Familie aufgrund rassistischer Stadtplanung verlassen musste, bis zur Emanzipation in Kalifornien, für die sie Jahrzehnte brauchte. „Ich würde gern behaupten, dass ich eine Feministin war, aber ich wusste gar nicht, was das ist“, schreibt Reid Soskin in dem autobiografischen Band „Sign My Name to Freedom“, der soeben in englischer Sprache bei Hay House erschienen ist.
Einen sehr präsenten Vater und zwei Ehemänner später, sagt sie über sich selbst, habe sie doch noch gelernt, ihren eigenen Stärken zu vertrauen. Da gab es einen schwulen Sohn, den es zu unterstützen galt, rassistische Immobilienpolitik im Bay, gegen die sie sich zur Wehr setzte, und einen Schuldirektor, der Minstrel-Shows veranstaltete, die sie zwar nicht verhindern, aber doch immerhin kritisch kommentieren konnte – und dabei auch noch Empathie für den Direktor aufbrachte: „Es war klar, dass er gerade einen Lernprozess durchmachte. Und der tat weh.“
We can do it! Auf dem Weg ihrer Befreiung, dem Weg zur Black-Power-Aktivistin, hat Reid Soskin sich nichts geschenkt. „Ich war politisch, ohne das eigentlich zu beabsichtigen“, schreibt sie, „Ich wollte einfach nur ein gutes Beispiel für meine Kinder sein.“
Im Hafen von Richmond im East Bay, nordöstlich der Halbinsel von San Francisco, erinnert nichts an die quirligen 1940er-Jahre, als die Stadt innerhalb kürzester Zeit von 20.000 auf über 100.000 Einwohner_innen anwuchs. Der Sog der Arbeitsplätze in der Kriegsindustrie, der das kulturelle Leben zum Blühen brachte, Bars, Cafés, Tanzlokalitäten – nichts ist davon übrig. Die Arbeitsmigration aus dem Süden brachte aber nicht nur Positives mit sich: Auch der Ku-Klux-Klan, erzählt Reid Soskin im an.schläge-Gespräch, sei „importiert“ worden. Nur ein kleines unerfreuliches Detail, das die Erfolgsgeschichte der Stadt gerne ausklammert?
Black Rosie. Mehrere Millionen Tonnen Import- und Exportgüter werden jährlich in Richmond verschifft. Öl und Autos sind die wichtigsten Produkte, Chevron ist der größte Arbeitgeber. Initiativen für Umwelt- und Klimagerechtigkeit wehren sich gegen Kohleexporte, die zu hoher Luftverschmutzung führen, gegen ausrinnendes Öl und gegen ständig drohende Arbeitsunfälle in der fossilen Brennstoffindustrie. Direkt am Ufer, eingezwängt zwischen Warenlagern und Messehallen, steht ein kleines Backsteingebäude, darauf Rosie the Riveter, die fiktive World-War-II-Feministin, mit Schweißerinnenbrille und aufgekrempeltem Hemd. „We Can Do It!“ Das hier gelegene Rosie-the-Riveter-Center gedenkt der sogenannten „Home Front“, der Zehntausenden Arbeiter_innen, die mit ihrem Einsatz in der metallverarbeitenden (Kriegs-)Industrie den militärischen Kampf gegen den Faschismus erst möglich gemacht haben. So wird die Geschichte erzählt. Betty Reid Soskin erinnert sie ein wenig anders.
Weiße Geschichte. „Für eine Familie wie meine, in der Generationen von Männern und Frauen nur gedient haben, war mein Aufstieg zur Büroangestellten in etwa so bedeutsam wie für Schwarze Familien heute die erste Tochter, die auf die Universität geht.“ (Später sollte Reid Soskin übrigens auch in einem anderen Bereich die erste in ihrer Familie werden: Sie ließ sich gegen alle Konventionen scheiden.) In den frühen 1940ern fand Reid Soskin in Richmond einen Job in der Gewerkschaft. Allerdings nicht in der Industriegewerkschaft – denn die verweigerte sich sowohl Frauen als auch Afroamerikaner_innen –, sondern in einer Art Hilfsgewerkschaft, die aufgebaut wurde, um diese Gruppen mithilfe einer rassistischen und sexistischen Behelfslösung zu Gewerkschaftsmitgliedern machen zu können. „Während Tausende weiße Frauen im Hafen als Schweißer_innen und Schlosser_innen beschäftigt waren, habe ich nie nur ein einziges Kriegsschiff aus der Nähe gesehen. Ich war damit beschäftigt, Karten an Schwarze Gewerkschaftsmitglieder auszugeben, die ihnen bestätigten, dass sie Mitglieder zweiter Klasse waren.“ Darum fällt es Betty Reid Soskin schwer, in den begeisterten Kanon der Geschichte von grenzüberschreitender Gemeinsamkeit miteinzufallen, als sie 2004 im Planungskomitee des Rosie-the-Riveter-Nationalparks sitzt. Niemand im Raum, erzählt sie in ihrem Buch, habe gemerkt, dass die Geschichte der Rosie-the-Riveter-Figur die Geschichte einer weißen Frau ist. „Was erinnert wird, ist direkt damit verknüpft, wer erinnert. Und an Segregation und Rassismus konnte sich in dieser Runde niemand erinnern – außer mir.“
Heute gibt es im Museumsshop auch Bildchen einer Schwarzen Rosie the Riveter zu kaufen. Immerhin. Mehrmals im Monat hält Reid Soskin einen Vortrag über diesen anderen Teil der Geschichte – und darüber, was er mit dem einen, dem so oft erzählten, zu tun hat. In einem Blogeintrag von Oktober 2018 vermerkt sie mit großer Zufriedenheit: „Nach über einem Dutzend Jahren in diesem Job ist heute endlich passiert, wovon ich immer geträumt habe: Die Mehrheit meines Publikums waren Schwarze Leute von hier.“
Die Welt, in der wir leben. „Ökonomisch war ich immer auf der unteren Hälfte der Leiter“, sagt Reid Soskin im Gespräch über die massive Wohnungsarmut, die heute die viel zu teure Bay Area prägt, „aber wohnungslos war ich zum Glück nie.“ In Oakland, San Francisco und den umliegenden Städten haben Leute, die ihre Wohnungen verloren haben, Parks, Seitengassen und Brachen zu Zeltplätzen umfunktioniert. Afroamerikaner_innen sind überproportional vom Höhenflug der Immobilienpreise betroff en. „Die Kluft zwischen Haben und Nichthaben ist riesengroß geworden. Bei meinen Vorträgen in Silicon Valley sehe ich, wie wohlhabend ein Teil dieser Gesellschaft ist – und wie unerträglich arm ein anderer.“
Eine Pessimistin ist aus Betty Reid Soskin trotz allem, was sie gesehen und erlebt hat, nicht geworden. Und obwohl sie Zeugin eines ganzen Jahrhunderts ist, fremdelt sie auch nicht mit dem technologischen Fortschritt – im Gegenteil, sie schenkt ihm Vertrauen. „Kürzlich erst war ich bei Adobe, um vor mehr als tausend Mitarbeiter_innen über Diversity zu sprechen. Diese Leute, alle unter dreißig, haben die Zukunft in der Hand, und sie werden was daraus machen, davon bin ich überzeugt. Wir Alten sollten ihnen einfach nicht im Weg herumstehen.“ Im technologischen Know-how dieser Generation, und dabei meint Reid Soskin vor allem künstliche Intelligenz, sieht sie massives Veränderungspotenzial. „Ob ich mir aussuchen würde, in so einer Welt zu leben? Ich glaube nicht. Aber ich habe mir auch die meinige nicht ausgesucht. Vor diese Wahl wird man nämlich nicht gestellt.“
Lisa Bolyos war in Kalifornien, um journalistische Recherchen zu Klimagerechtigkeit zu machen.
Betty Reid Soskin, hg. von J. Douglas Allen-Taylor:
Sign My Name to Freedom. A Memoir of a Pioneering Life
Hay House 2018, ca. 28 Euro
Blog: cbreaux.blogspot.com