Die klassische Kernfamilie bürdet Eltern enorm viel Arbeit und Verantwortung auf – vor allem den Müttern. Welche Gegenmodelle gemeinschaftlicher Kindererziehung gibt es? CORNELIA GROBNER über Multi-, Allo- und Co-Parenting.
Für Bea war immer klar: Sie will keine Kinder. Nicht als Mutter und auch nicht als Co-Mutter. Dieser Einstellung zum Trotz lebt die Fünfzigjährige seit mittlerweile zehn Jahren mit Kindern zusammen. Sie ist Teil einer kleinen Kommune im Norden Deutschlands. „Als ich nach der Trennung von meiner Partnerin eingezogen bin, habe ich eigentlich nur einen Unterschlupf gebraucht“, erinnert sich Bea. Die Kommune durchlebte damals eine Zeit der Veränderung. Bis auf ein Paar, das ein Baby erwartete, waren alle ausgezogen. Kleinfamilie statt Kommunenleben? Das wollten die zwei keinesfalls, am wenigsten die werdende Mutter.
„Not-so-nuclear Families“. Nach wie vor tragen in Hetero-Beziehungen mit Kindern Frauen die Hauptlast der Haushalts- und Familienarbeit. Um Vereinbarkeitskonflikte ausbalancieren zu können, braucht es ein ausgeklügeltes Care-Netzwerk. Die Soziologin Karen V. Hansen hat in ihrem Buch „Not-so-nuclear Families“ (1) gezeigt, wie komplex diese informellen Strukturen sind, die von der Politik geflissentlich ignoriert werden. Der Mythos vom Ideal der Kleinfamilie wird dadurch weiter am Leben erhalten: Dieser wertet nicht nur andere Familienmodelle ab, sondern verstellt auch den Blick darauf, dass Reproduktionsarbeit – und die immer höheren Gestaltungserwartungen daran – selbst zwei Elternteile schnell an ihre Grenzen bringen kann.
Ähnlich hat das Bea erlebt. „Ich bin schnell in die Familie reingewachsen, weil ich gesehen habe: Das Baby weint viel und die Eltern brauchen mich“, berichtet sie. Die Kommune wurde wieder größer und damit stieg auch die Anzahl der Bezugspersonen für das damals noch einzige Kind. „Wir verstehen uns als Familie, aber die Elternrollen haben sich nicht aufgelöst. Ich bin der Patenonkel und kein zweiter Papa“, betont etwa Malte, der kurz nach Bea auf den Hof der Kommune gezogen ist. Er übernimmt an festgelegten Tagen die Hauptverantwortung für das Kind – inklusive Gespräche mit Ärzt_innen oder in der Kita.
Juristisch gesehen haben es Multi-Eltern-Familien schwer, da das Gesetz nicht mehr als zwei Elternteile anerkennt. Das trifft klassische Patchworkfamilien ebenso wie Eltern von Kindern aus polyamoren Beziehungen: Dabei geht es zum einen um schulische oder gesundheitliche Auskünfte und Entscheidungen, für die jedoch Vollmachten erteilt werden können, zum anderen aber auch um Ansprüche wie Kinderbetreuungsgeld oder Pensionszeiten für die geleistete Arbeit.
Unsichtbare Elternteile. „Kinderlos“ hat Yasmina im Personalbogen für ihren neuen Job angekreuzt – und das, obwohl sie sich mit ihrer Partnerin, der trans Frau Maya, und deren Ex-Partnerin Anja die Verantwortung für ein sieben Monate altes Baby teilt. Die drei Mütter wohnen in einer Großstadt in Nordrhein-Westfalen in zwei Haushalten und wechseln sich mit der Kinderbetreuung ab. Vor dem Gesetz ist Yasminas Anteil unsichtbar.
Die Entscheidung für das Kind ist unabhängig von einer monogamen Zweierbeziehung gefallen, die es in dieser Konstellation nie gegeben hat: Die Frauen leben polyamor. „Als mich meine Eltern gefragt haben, ob wir uns das als sinnvoll fürs Kind vorstellen, habe ich gemerkt, dass das auch für mich ein wichtiger Punkt war. Ich habe mich also hingesetzt und Gründe dafür gesucht“ Maya hält kurz inne, um dann mit einem Lächeln in der Stimme fortzufahren: „Ich habe viele gefunden. Wir kennen und mögen uns schon lange, und weil Anja bereits ein Kind hatte, wusste ich aus früheren Gesprächen und Beobachtungen, dass wir in Sachen Elternschaft und Werte auf einer Wellenlänge sind.“
Biografische und politische Gründe. Wie viele Menschen in Familien-Arrangements leben, die sich von der sogenannten traditionellen Kernfamilie abgrenzen, ist nicht bekannt. Zum einen erfassen Mikrozensus-Erhebungen viele alternative Modelle erst gar nicht, zum anderen kursieren für Mehreltern-Familien verschiedene selbstgewählte Bezeichnungen wie „Multi-Parenting“, „Co-Elternschaft“ und „Allo-Parenting“. Die Gründe für solche Konstellationen sind verschieden: Neben biografisch-subjektiven Motiven wie im Fall von Patchwork- und Stieffamilien entstehen viele Mehreltern-Familien aus politisch-reflexiven Gründen, wie die Erziehungswissenschaftlerin Désirée Bender und die Soziologin Sandra Eck, die über Aushandlungsprozesse unkonventioneller Care-Arrangements forschen, herausgefunden haben. „Gerade bei Personen, die sich eher aus politischen Motiven in Mehrelternschaftsmodelle begeben, wird Co-Elternschaft bewusst als Schutz vor einem automatisierten Rückgriff auf tradierte Geschlechternormen und traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gesehen“, so Bender.
Auch Maya ist von ihrem Modell überzeugt – besonders wenn sie mitbekommt, dass andere Mütter im ersten Babyjahr oft keine Minute für sich haben: „Bei uns hat jede festgelegte kinderfreie Zeiten, in denen das Baby oft nicht einmal im eigenen Haushalt ist. Davon profitieren wir, weil uns das ein selbstbestimmteres und glücklicheres Leben ermöglicht.“
Die Ambivalenz der Großfamilie. Diese Freiheiten sind das, was Ida in ihrem Leben vermisst. Die 35-Jährige wohnt mit Mann und Kind in Wien und kämpft, besonders jetzt da die Geburt eines zweiten Kindes bevorsteht, mit dem Familienmodell: „Wir leben als relativ isolierte Kernfamilie ohne familiäre Netzwerke und gerade in der Babyzeit des ersten Kindes lastete viel Arbeit und Verantwortung auf mir.“ Mit Sehnsucht denkt sie an ihre eigene Kindheit zurück: Ida ist als jüngstes von fünf Kindern in einer bäuerlichen Großfamilie aufgewachsen. Neben ihrer älteren Schwester hat sich vor allem eine Großtante um ihre Erziehung und Pflege gekümmert.
Solche Mehrgenerationen-Haushalte sind für die Philosophin Anca Gheaus genauso wie Kommunen eine Möglichkeit, verlässliche nicht-elterliche Care-Netzwerke zu etablieren. Ihrer Meinung nach sei das sogar eine moralische Verpflichtung jeder Gesellschaft, um Kinder vor ungesunden Abhängigkeiten zu schützen.
Ida hat erst als Erwachsene erfahren, dass in ihrer Herkunftsfamilie nicht alles so harmonisch abgelaufen ist, wie sie es empfunden hat: „Vor meiner Geburt lebten auch noch zwei Onkel am Hof. Deren zum Teil gewalttätige Einmischung in die Erziehung hat meine Mutter sehr belastet.“ Darüber hinaus empfand ihre ältere Schwester die ungewollt auferlegte Verantwortung für die um zehn Jahre jüngere Ida als überfordernd: „Das hat unserer Beziehung bis ins Erwachsenenalter nicht gutgetan.“ Nichtsdestotrotz hält Ida daran fest, dass das Leben im Großfamilienverband für alle Beteiligten mehr Vorteile als Nachteile bringt. Mit einer Einschränkung: „Ich bin schon froh, dass ich mein Leben ohne Einmischung von außen gestalten kann. Aber diese Unabhängigkeit hat einen sehr hohen Preis.“
Re-Traditionalisierung. Eine Lösung für die Belastung, die durch alleinige Kinderverantwortung entsteht, stellt in Mehreltern-Familien nicht nur die Anzahl der Erwachsenen und Haushalte dar, sondern in vielen Fällen auch der Rückgriff auf abgestufte statt allumfassende Elternrollen. Diese bieten mehr Rückzugsmöglichkeiten und dezidierte Pausen vom Papa- oder Mama-Sein als die idealtypischen Elternrollen der klassischen Kernfamilie.
Gleichzeitig bemerken die Forscherinnen Bender und Eck Tendenzen zur Re-Traditionalisierung. Diese seien etwa bei lesbischen Paaren zu erkennen, die Wert auf eine präsente Vaterfigur im Leben ihrer Kinder legen: Das Vater-Mutter-Kind-Modell wird in abgewandelter Form wiederholt und die Bedeutung verschiedener Geschlechterrollen zementiert. Die heteronormativen Standards von Familie sitzen scheinbar, ganz unabhängig vom eigenen Begehren, nach wie vor tief.
Cornelia Grobner ist Journalistin und lebt in Wien.
(1) Die englische Bezeichnung für Kernfamilie lautet nuclear family.